Drei Irrtümer und ihre Folgen

Beitrag von Peter Sonntag

„Drei verhängnisvolle Irrtümer der Menschen haben die Völker der Freiheit beraubt, haben sie unter Priestertyrannei schmachten lassen, haben ihnen die Zuversicht zur eigenen Kraft, die Verantwortung, erhaben über allen Lohn- und Strafgedanken, ein Gottgleichnis aus der eigenen Seele zu gestalten, und haben ihnen endlich auch die Pflichten für das unsterbliche Volk genommen. Sie haben nicht nur das Leben des Einzelnen nur allzu oft sinnwidrig gestaltet, nein, auch die Lebenskraft der unsterblichen Völker bedroht. Fast zwangsläufig verfiel die Mehrheit der Menschen, als Naturerkenntnis noch versagt war, den drei folgenschweren Irrtümern. Priestertyrannei brauchte sie dann nur aufzugreifen und auszuschmücken, und siehe da, sie hatte statt freier, verantwortungsbewußter Menschen in freien Völkern eine Herde angsterfüllter, höriger Knechte. Betrachten wir einmal diese drei verhängnisvollen Irrtümer und ihre Folgen.

Der zum bewußten Leben fähige Mensch, der seine Persönlichkeit von der Umwelt zu sondern vermag, kann sich mit der so klaren, stündlich durch die Erfahrung neu erwiesenen Tatsachen so schwer abfinden, daß nämlich sein persönliches bewußtes Erleben so sicher, wie es bei seiner Geburt anfing, sein Ende durch das Todesmuß findet. Obwohl es ihm allerwärts in Überfülle erwiesen ist, daß sein bewußtes Leben von der Lebensfähigkeit seiner Körperzellen durchaus abhängig ist, ohne diese keineswegs bestehen könnte, verfällt er nur allzu leicht den Wunschvorstellungen, daß doch diese seine Persönlichkeit und auch die seiner Lieben mit all ihrer einmaligen Eigenart irgendwie und irgendwo nach seinem Tode in alle Ewigkeit weiterleben könne. Die einen glauben, dies Weiterleben sei, gepaart mit Glückseligkeit, in einem Himmel oder, gequält mit unsagbaren Qualen, in einer Hölle. Die anderen sagen, der Mensch werde in Lebewesen der Erde oder eines Sternes nach seinem Tode wiedergeboren und schöpfen aus diesem Wahne auch Gedanken an Lohn und Strafe für Worte und Taten, also Gedanken an eine „ausgleichende Gerechtigkeit“. Wie immer nun auch im Einzelnen solcher Wahn ausgestattet wird, immer wird vergessen, daß das ewige Entschlummern im Tode ein ewiges Schwinden des persönlichen und bewußten Lebens ist, ein höchst wertvolles Können, dessen tiefen Sinn ich enthüllte.

Durch den Wahn von einem Leben nach dem Tode irgendwelcher Art legt sich nun zugleich auf den Menschen die Ungewißheit seines Schicksals nach der Todesstunde und mit ihr auch die Sehnsucht, sich ein gutes Los zu sichern. Sein Gutsein erhält nun einen Zweck, und dadurch wird er von der Möglichkeit, wahrhaft gut zu sein, erbarmungslos abgetrennt; denn nur über Lohn- und Strafgedanken erhaben kann man dieses göttliche Wollen erfüllen. Um so reifer wird er aber zur Versklavung an Okkultpriester aller Arten, die ihm ein gutes Leben nach dem Tode wollen sichern helfen. So erhält nun das Leben vor dem Tode für alle diese Wahngläubigen statt seines tatsächlichen göttlichen Sinnes einen künstlichen, durch Wahnhoffnungen und Befürchtungen erzeugten Scheinsinn: es wird Vorbereitung für das Leben nach dem Tode. Die Okkultpriester aller Gattung haben allein schon durch diese der Leidangst, der Glücksehnsucht und dem Wunsche zur Unsterblichkeit im gleichen Maße entgegenkommende Wahnlehre eine gar große Aussicht, die willkommenen Vermittler eines glücklichen Lebens nach dem Tode und hierdurch allein schon allmächtig zu werden. Immerhin aber fand dieser verhängnisvolle Irrtum noch eine Ergänzung durch einen zweiten Wahn.

Die Gesetze der Menschenseele, wie ich sie in meinen Werken nachwies, zeigen uns eine bestimmte Einbruchsmöglichkeit in das Innenleben des Menschen durch die Mitmenschen, die noch außer all jenen gewaltigen Seelenschädigungen durch die Suggestivbehandlung besteht und eine starke Einwirkungsmöglichkeit auch von Priesterkasten auf das Einzelleben und auf alle Gebiete des Volkslebens bedeutet. Der Mensch fühlt nämlich bei mancherlei Handlungen innere Zufriedenheit mit sich selbst, bei anderen wieder erlebt er Selbstvorwürfe und spricht dann von der „Stimme des Gewissens“ in seiner Seele. Diese ist, wie ich nachgewiesen habe, sehr irreführend, denn Selbstvorwürfe treten nur dann auf, wenn der Mensch den in ihm zur Stunde herrschenden Wertungen von Gut und Böse zuwiderhandelt. Stehen seine Worte und Taten aber in Einklang mit denselben, so lobt ihn die Stimme des Gewissens. Hieraus ergibt sich klar, daß die Menschen über die Gewissensruhe oder Gewissensvorwürfe ihrer Mitmenschen zu bestimmen haben, denen es gelingt, ihnen ihre Werte von Gut und Böse aufzunötigen. Wem aber sollte dies leichter möglich sein, als gerade jenen, die den Menschen Glück nach dem Tode zuzusichern verheißen, also Priesterkasten? Die Wertungen von Gut und Böse werden in allen Völkern, die dem Wahn von einem Leben nach dem Tode verfallen sind, von Priesterkasten den Einzelnen und den Völkern gegeben. Sie werden dem Kinde von jenen selbst oder aber von Lehrern oder Erziehern, die entsprechend unterwiesen waren, als unantastbare göttliche Tatsachen übermittelt. Damit hat also in solchen Völkern die Priesterkaste allerwärts und jederzeit die Möglichkeit, in Menschen Gewissensvorwürfe über Worte und Taten zu erzeugen, sobald die von ihnen bestimmten Wertungen über Gut und Böse nicht beachtet werden. Nur wenige Menschen im Mittelalter, die seelisch zu stark in göttlichem Sinne waren, um Priesterwertungen in den Abgrund der Gottferne zu folgen, erhielten sich ein edles Gewissen. Sie konnten sich nicht zu der Unmoral verstehen, andere Menschen zu bespitzeln, um sie dann als Ketzer oder Hexen anzuzeigen und sie so den Folterungen und den Qualen der lebendigen Verbrennung auszusetzen! Die Mehrheit aber hatte solche Selbständigkeit gegenüber den gelehrten Wertungen von Gut und Böse nicht, sie nahm die priesterlichen Wertungen auf, war folgsam und zufrieden, ja, überzeugt, daß ihre niedrigen Anzeigen von „Ketzern und Hexen“ Edeltaten seien.

Wenn zudem obendrein eine Priesterschaft so schlau war, und sie war es meist, noch ergänzend jedes Mißtrauen gegen die Stimme des Gewissens dadurch zu ersticken, daß sie behauptete, dies Gewissen sei ein untrüglicher Maßstab, „die Stimme Gottes in der Menschenseele“, so saßen Priester nun sozusagen als Stimme Gottes in der einzelnen Seele und bestimmten das Handeln der Menschen. Paarte sich diese Wahnlehre über die Gesetze des Gewissens dem ersten Wahn über das Leben nach dem Tode, so war durch die Vereinigung beider Irrtümer die Versklavung der Menschenseele an eine Priesterherrschaft und alle ihre Machtziele erreicht. Und dennoch soll noch ein dritter Wahn die Herrschaft vollenden helfen.

Immer noch gab es unzählige Menschen, die besonders in den Tagen der Jugend und den Zeiten der Gesundheit wie jener Römer sagten: „Ich denke nicht an den Tod, solange er nicht da ist, und ist er da, dann brauche ich auch nicht an ihn zu denken, weil ich dann nicht mehr da bin.“ So wären die Priesterreiche in allen Völkern durch die Gleichgültigkeit der Jugend und der körperlich gesunden Menschen dem Tode gegenüber gefährdet gewesen. Das durfte nicht sein, denn z.B. die gewaltsame Unterdrückung, das Ausrotten der Andersgläubigen, … bedarf doch gar sehr der Folgsamkeit der jungen und gesunden Menschen. Da mußten nun die gleiche Leidangst und Glücksehnsucht, die in jedem unvollkommenen Menschen eine so bedeutende Machtstimme haben, die schon den Wahn vom Leben nach dem Tode unterstützt hatten, noch einmal sinnvoll herangezogen werden. Zu solchem Zwecke war ein dritter verhängnisvoller Irrtum ganz ausgezeichnet geeignet und nistete sich in den Menschen aller Völker fest ein. Es war dieser dritte Wahn besonders in jenen Zeiten so naheliegend, in der mangelnde Naturkenntnis die Unsicherheit und die Angst vor unglücklichen Ereignissen, die in der Zukunft, aber noch vor dem Tode, den Menschen bedrohen, noch zu steigern. Je weniger die Gesetzmäßigkeit der Naturkräfte erkannt war, je weniger der Mensch sie noch auswerten konnte, um so günstiger war der Boden für diesen dritten, einer Priesterkaste so sehr willkommenen, für sie so fruchtbaren Wahn, daß ein persönlicher Gott, oder persönliche Götter, oder Schicksalsmächte irgendwelcher Art die Geschicke des Einzelnen und ganzer Völker gestalten, und daß durch allerlei Opfer, Kulthandlungen, Gebete oder Übungen eine günstige Gestaltung des Schicksals erreichbar sei. Nun stand es im Belieben von Priestern, Handlungen und Lebensgestaltung der einzelnen Menschen und ganzer Völker zu bestimmen, deren Innehaltung als sicherer Weg, eine günstige Schicksalsgestaltung zu erlangen, von ihnen gepriesen wurden. Ganz zufällig dachten sie da bei der Aufstellung solcher Vorschriften gar oft, durch sie ihre Gewaltherrschaft über die einzelnen Seelen, über die Gestaltung des kulturellen, rechtlichen und wirtschaftlichen Lebens der Völker noch zu erhöhen. Ja, nun war ihnen durch die Ausbeutung der Schicksalsschläge als verdiente Strafe oder verdienten Lohn noch dazu die Möglichkeit gegeben, die Geschichte der Völker weitgehend zu gestalten, ihr geschichtliches Handeln in Gegenwart und Zukunft zu bestimmen. Darüber hinaus war nun Leben und Tod der unsterblichen Völker in ihre Hand gegeben. Sie konnten jene Völker lebens-, abwehr- und hoffnungsmatt machen, die ihrer Herrschaft bedrohlich waren, sie konnten andere gehorsame Sklavenvölker aber vertrauensvoll, angriffsfreudig und siegessicher machen.

Die ernste Tatsache ist unbestreitbar, daß weder der einzelne Mensch, noch ein ganzes Volk je hoffen dürften, frei von Tyrannei okkulter Priester und aller ihrer Ordenshelfer zu werden, wenn sie nicht an Stelle dieser gefährlichen Wahnlehren die heilige Tatsächlichkeit setzen. Nicht das Freiwerden von der Christenlehre also bedeutet Freiheit von Priestertyrannei, gar oft bleibt der Einzelne völlig in diesen drei Irrtümern befangen und wechselt nur die Abart der Priesterkasten. Für seine und seines Volkes Freiheit ist es gleich, ob er christliche Priester oder theosophische Mahatmas, d.h. Weisen, in seiner Seele herrschen und bestimmen läßt oder sie als Vorgesetzte eines Okkultordens anerkennt, dem er sich verpflichtet. Gewiß läßt jede dieser Priesterkasten die drei unerläßlichen Machtstützen in etwas abgeänderter Form erscheinen, aber an dem Wahn eines weiteren Lebens nach dem Tode, an dem Wahn der untrüglichen Weisheit der Stimme des Gewissens, an dem Wahn der Schicksalsgestaltung vor dem Tode durch ewige göttliche Mächte müssen sie alle festhalten, denn diese Lehren sind die Stützen ihrer Macht. So bleibt denn der „Befreite“ genau so unfrei, genau so wahnbetört, genau so priesterhörig, genau so fern dem zweckerhabenen Gutsein, genau so fern dem göttlichen Sinn des Lebens, genau so unfähig, die Pflichten an seinem Volke in vollem Ausmaße zu erfüllen. Völlig gleichgültig für sein oder seines Volkes Schicksal ist es, ob er etwa eine Rune oder einen Heiligen verehrt und ihnen Machteinflüsse auf sein oder seines Volkes Geschick zumutet, ob er durch eine Wallfahrt oder durch eine Yogaübung Zusammenhang mit dem Göttlichen zu finden hofft, ob er in einem Himmel oder in Walhall oder in einem Lebewesen sein persönliches Leben nach dem Tode weiterzuleben glaubt, ob er die Moralgebote christlicher oder buddhistischer Priester für die untrügliche Stimme Gottes in seiner Brust hält, oder ob er wähnt, sein Erbgut sei ein göttlicher, untrüglicher Leitstern in seiner Seele zum Einklang mit dem Göttlichen.

Der Weg zur Freiheit von Priestertyrannei führt für den einzelnen Menschen und für ganze Völker über die Grundwahrheiten, die ich in meinen Werken erwiesen habe. Die drei verhängnisvollen Irrtümer müssen erst weggeräumt sein in der Seele, ehe sie überhaupt fähig wird, Gotterkenntnis in sich entstehen zu lassen. Die Wahrheit, die diesen verhängnisvollen Irrtümern gegenübergestellt wird, macht Priestertyrannei unmöglich. Und kündet:

Das bewußte Leben des einzelnen Menschen schwindet für immer in der Stunde des Todes. Nur vor dem Tod kann er den göttlichen Sinn seines Lebens erfüllen und auf die Umwelt in Wort und Tod ausstrahlen.

Die Stimme des Gewissens ist nicht untrügliche Gottesstimme, sie kündet der Seele nur den Einklang oder den Widerspruch ihres Denkens, Fühlens und Handelns mit den zur Zeit in ihr herrschenden Meinungen von Gut und Böse. Der schlechteste Mensch kann also bei seinem gottfernen Tun unter Umständen ein sehr gutes Gewissen haben.

Das Schicksal des Einzelnen und der Völker wird nicht von göttlichen Mächten gestaltet, sondern von den unerbittlichen herrschenden Naturgesetzen und zudem von Menschen. Je gottnäher der einzelne Mensch ist, um so mehr göttliche Kräfte strahlt seine Antwort auf das Schicksal aus und läßt es so für sich und sein Volk sinnvoll werden.

Von solchem Boden der Wahrheit aus, völlig erhaben über Glücksehnsucht und Leidangst, kann der Mensch zur Gotterkenntnis hinfinden, die in meinen Werken nur ein Gleichnis in Worten gefunden hat. Leidangst und Glückssehnsucht aber machen Menschen völlig unfähig, den göttlichen Sinn des Lebens zu erfüllen und liefern ihn grausam der stumpfen Gleichgültigkeit in göttlichen Fragen oder aber irgendeiner Priestertyrannei aus.“

(Aus: Mathilde Ludendorff, Wahn und seine Wirklichkeit 1938, S.5)