Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens Teil 3

Wie alle Schriften, so dient auch diese als Anregung sich selbst mit den Werken Mathilde Ludendorffs zu beschäftigen.

Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens

TEIL 3

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Sinn des Sterbens

Aber das Wissen um den Tod hat noch eine andere wundervolle Auswirkung. Die Jugend lebt in die Tage hinein, im Vollgefühl ihrer Kraft. Ihre Sinne sind ganz der Erscheinungswelt zugewandt, die sie gestalten und umgestalten will. Der alte Mensch hat – sofern er den Sinn des Lebens in der von mir umschriebenen höheren Deutung sieht- den Blick mehr auf die ideellen Werte gerichtet. Er steht den vergänglichen Gütern des Lebens mit mehr Abstand gegenüber. Er sieht die Erfüllung des Lebens darin, mit dem Göttlichen im Einklang zu stehen. Aus dieser Sicht wächst in ihm die Verantwortung, für das Edle einzustehen, und je mehr er weiß, daß der Tod naht, umso mehr weiß er, daß die ihm zum Wirken noch verbleibende Zeit kurz bemessen ist.

Diese Verantwortung wächst selbst schon in dem Menschen, den ein schmerzliches Schicksal schon vor den Jahren des Alters vor die Notwendigkeit stellt, dem Tod ins Angesicht zu schauen. In der Nähe des Todes und im Bewußtsein, daß vielleicht schon bald die letzte Stunde gekommen sein wird, die jedes Wirken abschließt, erhebt sich der Wille, der Erfüllung des Lebenssinnes zu leben, zu großer Kraft. So wird das Wissen vom Sterben der Wegbereiter des Göttlichen unter den Menschen. Wir erkannten den Sinn des Lebens in dem bewußten Erleben und Erkennen des Göttlichen, und nun erkennen wir den Sinn des Sterbens darin, daß das Bewußtsein des unausweichlichen Todes uns eine ungeahnte Kraft gibt, vor unserem Tode den Sinn unseres Daseins zu erftülen.

Die Aussage der Philosophie

Nachdem der erste Teil mehr allgemeine und einführende Ausführungen gebracht hat, soll der nun folgende zweite Teil zu dem Thema „Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens“ philosophisch Stellung nehmen.

Die Philosophie führt den Menschen zur Beantwortung letzter Lebensfragen, also auch zur Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Sinn des Todes. Dabei macht die Philosophie Aussagen, die über die Erkenntnisse der Naturwissenschaft hinausgehen. Sie muß das, denn die Naturwissenschaft will und kann nur über die Erscheinungswelt, die uns mit ihren vielfältigen Dingen umgibt, Auskunft geben, nicht aber über den Sinn dieser Erscheinungswelt. Dabei bleiben natürlich die Aussagen der Naturwissenschaft bei den philosophischen Aussagen in voller Gültigkeit. [Hervorhebung d. d. R.] Ja, ohne eine umfassende Naturerkenntnis kann auch der Philosoph keine umfassende Sinndeutung des Menschenlebens geben. Das ist der Grund, weshalb eine solche umfassende Sinndeutung erst in unserem Jahrhundert nach dem unerhörten Aufstieg der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse möglich war. Eine der grundlegenden Naturerkenntnisse ist die Lehre von der Entwicklung der Lebewesen auf unserem Erdball. Frühere Zeiten hatten nach der Lehre des Christentums angenommen, daß am Anfang der Welt alle Lebewesen – wie wir sie heute auf unserer Erde antreffen – von einem persönlich gedachten Gott geschaffen worden seien. Da war es eine unerhörte Sache, als vor etwa 150 Jahren die Erkenntnis von der Entwicklung der Arten an die Öffentlichkeit trat. Die Naturwissenschaft wies nach, daß der Mensch sich in der unermeßlich langen Zeit von etwa vier Milliarden Jahren aus dem Reich niederster Lebewesen entwickelt habe, daß alle Lebewesen untereinander verwandt seien. Es kam die erstaunliche Tatsache zutage, daß alle Lebewesen aus gleichen Grundbausteinen (u.a. aus nur etwa 20 Aminosäuren) aufgebaut sind, daß die Gesetze des Lebens für alle Lebewesen in gleicher Weise gelten, ja, daß die seelischen Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt, schon bei den Tieren in ihrem Ursprung nachweisbar sind, daß also nicht nur der Mensch Seele habe, daß wir seelisches Leben schon bei den Tieren, ja, selbst bei Pflanzen feststellen können.

Es war ein unerhört großes Gebiet der Forschung, das sich den Naturwissenschaften auftat. Und in unglaublicher Kleinarbeit, in unerhörter Geduld, durch genaueste Beobachtung, wird Steinchen für Steinchen herbeigebracht, um am Ende einen bewundernswerten Bau der Naturerkenntnis zu errichten, eine Erkenntnis der Erscheinungswelt, die uns rings umgibt. Doch die Frage nach dem Sinn dieser Erscheinungen kann uns die Naturwissenschaft nicht beantworten. Dies ist die Aufgabe der Philosophie.

Die intuitive Erkenntnis

Doch wie ist eine Erkenntnis über den Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hinaus möglich?

Um die Erscheinungswelt zu erkennen, haben wir Menschen die Fähigkeit, die Dinge wahrzunehmen und zu unterscheiden, sie in ihrem Verhältnis von Raum und Zeit nach der Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung einzuordnen. Man nennt diese Fähigkeit die Vernunft. Um das Wesen der Erscheinungswelt zu erkennen, haben die Menschen die Fähigkeit der Intuition, die Fähigkeit des unmittelbaren Erfassens durch inneres Erleben. Wir werden z.B. das Naturschauspiel eines Sonnenuntergangs in seiner Farbenpracht nicht durch Denken erfassen, sondern wir werden die sich uns darbietende Schönheit unmittelbar erleben. In dieser Weise werden wir den Gehalt jedes Kunstwerkes erfassen. In dieser Weise können wir aber auch eine philosophische Einsicht in das Wesen der Erscheinungswelt aufnehmen.

Der Mensch hat also zwei Erkenntnisfähigkeiten: Einmal die Fähigkeit, mit der Vernunft die Erscheinungswelt zu erfassen und zum anderen die Fähigkeit, das Wesen der Erscheinungswelt zu erfassen. Diese zweite Fähigkeit wird Intuition genannt.

Wir Menschen sind mit diesen Fähigkeiten unterschiedlich ausgestattet, unterschiedlich begabt. Nicht jeder Mensch ist fähig, ein Naturwissenschaftler zu sein und nicht jeder Mensch hat die Gabe der Intuition. Ein Philosoph ist mit dieser seltenen Gabe ausgestattet, das Wesen der Erscheinungswelt unmittelbar durch intuitive Schau zu erkennen, und seine philosophische Erkenntnis im Einklang mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft im Werke so zu gestalten, daß auch andere Menschen in den Stand gesetzt werden, seine Intuition aufzunehmen und nachzuerleben, sofern sie sich ihre seelische Erlebensfähigkeit erhalten haben.

Durch irgendeine Erkenntnis der Naturwissenschaft kann der philosophisch begabte Mensch zu einer Intuition über den Sinn der Erscheinungen angeregt werden. Handelt es sich um eine wahre intuitive Einsicht und nicht um ein Hirngespinst, so wird sie sich bewahrheiten, d.h. ihre Richtigkeit wird sich erweisen durch den Einklang zwischen Intuition und der Wirklichkeit des Lebens.

Ich möchte diesen Zusammenhang zwischen intuitiver Erkenntnis und ihrem Einklang mit der Lebenswirklichkeit an einer Intuition aufzeigen, die das philosophische Schaffen Mathilde Ludendorffs begründete.

Naturwissenschaftliche Erkenntnis als Ausgangspunkt der intuitiven Erkenntnis

Die naturwissenschaftliche Erkenntnis, die Mathilde Ludendorff zum philosophischen Schaffen anregte, war die Tatsache der potentiellen Unsterblichkeit der Einzeller, die durch ihren Universitätslehrer, dem Biologen August Weismann, schon um die Jahrhundertwende [des 19./20. Jahrhunderts Anm. d. R.] nachgewiesen worden war. Unter den Biologen unserer Zeit umsinnt Adolf Portmann die Tatsache des Todes und der Unsterblichkeit der Einzeller. Ich lese bei ihm:

Wer beispielsweise Bakterien oder Einzellige beobachtet, kann mit Glück und Geduld sehen, wie sie sich teilen. Immer und immer wieder entstehen auf diese Weise neue, ja, wie soll man das nennen, wollen wir sie sehr vage „Wesen“ nennen.

Man hat eine Zeitlang mit viel Hingabe und Eifer gesucht, ob bei den Teilungsvorgängen dieser einfachsten Wesen doch vielleicht etwas absterbe, ob es also eine Leiche gäbe. Vergeblich! Man mußte sich dazu durchringen, daß der natürliche Tod in dieser Welt des ursprünglichen Lebens nichtvorkommt. Gewiß können Bakterien gefressen, zermalmt, verbrannt, durch ätzende Flüssigkeiten aufgelöst werden, das ist jedoch nicht der Tod, den wir meinen, wenn wir vom Sterben der höheren Lebewesen reden.

Diese also schon von Professor Weismann ausführlich begründete Erkenntnis gab Mathilde Ludendorff den Anstoß zu ihrem philosophischen Schaffen. Sie schreibt:

Die von Weismann entdeckte Tatsache der potentiellen Unsterblichkeit der Einzeller ist der Erwecker meines philosophischen Sinnens und Erkennen- gewesen. Meine Sinndeutung des Todes der höheren Lebewesen war dann das offene Tor, durch das ich zum Wesen der Schöpfung schreitend, viele Rätsel des Lebens lösen und Gesetze der Seele erkennen konnte.

Zunächst einmal stellen wir fest: die ältesten Lebewesen unserer Erde bestehen aus einer einzigen Zelle, es sind die Einzeller. Sie vermehren sich durch Teilung. Diese Einzelligen kennen den natürlichen Tod, den Alterstod, nicht. Sie haben die Möglichkeit unsterblich zu sein, sie sind – wie der Biologe es sagt – potentiell unsterblich. Wir stellen also fest, wie Portmann sagt, daß der natürliche Tod in dieser Welt des ursprünglichen Lebens nicht vorkommt. Nur die Vielzelligen unterliegen dem natürlichen Tod. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, daß auch bei den Vielzelligen einzelne Zellen dem Tod entgehen, nämlich die Zellen, die als Keimzellen die Lebewesen der nächsten Generation schaffen. Also auch die Keimzellen des Vielzellers nehmen an der potentiellen Unsterblichkeit teil, und nur alle anderen Zellen dieses Lebewesens – alle Körperzellen – sind ganz und gar dem Tode verfallen. Vergleichen wir nun Keimzellen und Körperzellen eines höheren Lebewesens, so stellen wir fest, daß die Keimzellen wesentliche Merkmale ihrer ältesten Vorfahren, der Einzelligen, beibehalten haben, während die Körperzellen sich in der mannigfaltigsten Weife abgewandelt und eine große Reihe unterschiedlichster Zellarten entwickelt haben. Nur durch solche unterschiedliche Entwicklung konnten höhere Lebewesen überhaupt entstehen, weil die einzelnen Organe der Lebewesen sehr unterschiedliche, speziell für ihre Aufgabe gestaltete Zellen benötigten. Eine Leberzelle, eine Nervenzelle, eine Muskelzelle sind eben außerordentlich verschieden, um ihre jeweilige lebenerhaltende Aufgabe erfüllen zu können.

Wir erkennen, daß – ohne die sehr unterschiedlichen, sehr differenzierten Zellen – die Entwicklung nicht möglich gewesen wäre. Nur durch die unterschiedliche Ausbildung der sterblichen Körperzellen war die Möglichkeit gegeben, Organe und – vor allem ein zentrales Nervensystem – zu entwickeln. Nur so war es möglich, den Menschen werden zu lassen, ein Lebewesen, daß nicht nur, wie das Tier, die Fähigkeit hat, Umwelt wahrzunehmen, sondern Umwelt auch bewußt zu erkennen, wie Konrad Lorenz schreibt:

Für den Naturforscher ist der Mensch ein Lebewesen, das seine Eigenschaften und Leistungen einschließlich seiner hohen Fähigkeit des Erkennens der Evolution verdankt.

Der Naturwissenschaftler sieht den Menschen als das mit Denkfähigkeit aus- gestattete Lebewesen, als die höchste Entwicklungsstufe der Säugetiere.

Todbegreifen und Unsterblichkeitswille

Mathilde Ludendorff sieht darüber hinaus im Menschen vor allem das Lebewesen, das als einziges – dank seiner hohen Fähigkeit des Erkennens – in der Lage ist, die Tatsache des Sterbenmüssens – das Todesmuß – klar und bewußt zu erkennen. Dieses Erkennen seines Schicksals aber löst in der Seele des Menschen Fähigkeiten aus, die ihn weit – auch über das höchste Säugetier – erheben. Der Mensch ist also ein Todbegreifer! Ein Erkenner seines Schicksals, der nun mit dieser Erkenntnis fertig werden muß, der seinen Unsterblichkeitswillen – der ja in ihm, wie in allen Lebewesen brennt – erlösen muß.

Fassen wir also zusammen: Die Entwicklung des Lebens auf unserer Erde nimmt ihren Anfang bei einfachsten einzelligen Wesen, die dem natürlichen Tod nicht unterworfen sind. Sie führt über die Vielzeller, die alle dem Alterstod unausweichlich unterliegen, zum Menschen, zu dem Lebewesen, das die Welt bewußt erkennen kann, das daher auch erkennt, daß nach einer Reihe von Lebensjahren naturnotwendigerweise der Tod eintritt. Dabei ist der Mensch – wie jedes andere Lebewesen – auch von dem Willen nach Unsterblichkeit beseelt; deshalb führt die Stufe des Bewußtseins, die der Mensch erreicht hat, zwangsläufig zu dem großen Widerspruch: Einerseits der Wille zur Unsterblichkeit – andererseits das Wissen vom unausweichlichen Tod.

Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?

Soweit ich sehe, wird diese Frage in der Naturwissenschaft, bei den Biologen, nicht gestellt. Es ist eben eine philosophische Frage. Doch lernen wir zunächst noch kennen, was die Naturwissenschaft zur weiteren Entwicklung nach der Menschwerdung sagt. Sie spricht von einer zweiten Art der Evolution, von einem zweiten Abschnitt. Während der erste Abschnitt, die Entwicklung vom Einzeller bis hin zum Menschen, die Zeit von einigen Milliarden Jahren umgreift, vollzieht sich der zweite Abschnitt im Vergleich dazu in einer äußerst kurzen Zeit. Es ist die Entwicklung der Kultur der Menschen. Wobei die Wissenschaftler unter dem Wort Kultur alles verstehen, was Menschen – dank der Fähigkeiten ihres bewußten Seelenlebens – geschaffen haben.

Auch Mathilde Ludendorff sieht diese Entwicklung. Aber gemäß ihrer Einsicht in die unterschiedlichen Erkenntniskräfte der Menschenseele, unterscheidet sie zwischen Zivilisation und einem anderen Gebiet, das sie ausschließlich mit Kultur bezeichnet.

Sonderung zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“

[…]

Fortsetzung folgt

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Autor: Dr. W. P.

Mit freundlicher Genehmigung von „Die Deutsche Volkshochschule“