Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens Teil 4

Wie alle Schriften, so dient auch diese als Anregung sich selbst mit den Werken Mathilde Ludendorffs zu beschäftigen.

Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens

TEIL 4

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Sonderung zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“

Die Werke der Zivilisation sind das Ergebnis des Denkens, des bewußten Begreifens von Ursache und Wirkung, der bewußten Überlegung von „zweckmäßig“ und „unzweckmäßig“. Wir nannten diese Fähigkeit die Vernunft. Die Verhaltensforscher belehren uns, daß diese Fähigkeit in ihren ersten Anfängen schon beim Tier festgestellt werden kann, daß aber erst der Mensch mit Hilfe dieser – bei ihm nun bewußten – Fähigkeit, Erfindungen macht und im Laufe der Jahrtausende eine Zivilisation aufbaut, die sein Leben so grundlegend verändert.

Mathilde Ludendorff zeigt, daß der Mensch neben diesem Schaffen noch zu ganz anderem seelischen Verhallen befähigt ist. Er macht sich Gedanken über Recht und Unrecht, er entwickelt Forderungen eines Gewissens, wie wir das nennen, er erlebt Freude am Schönen, die er nun verwirklichen möchte. Sie zeigt, daß all diese Bestrebungen nichts mit der Frage nach dem Zweck – also nach Nutzen und Schaden – zu tun haben, sondern, daß diese Bestrebungen in völliger Zweckfreiheit in der Seele des Menschen erlebt werden. Dank dieser Fähigkeit schafft nun der Mensch die Werke der Kultur als Ausdruck seines seelischen Erlebens. So unterscheidet sie Zivilisation von Kultur. Zivilisation ist alles Schaffen der Menschen, um den Daseinskampf besser, leichter, bequemer bestehen zu können, es sind also alles Werte der Zweckmäßigkeit. Kultur ist alles Schaffen aus Freude am Schönen, aus Freude am Guten und am Wahren.

Gewiß, diese beiden Bereiche – Kultur und Zivilisation – lassen sich nicht immer reinlich trennen. Ein Kleidungsstück z.B. ist gewiß ein Werk der Zweckmäßigkeit, insofern also Zivilisation, aber, indem es nun auch noch dem Verlangen nach Schönheit Ausdruck verleiht, ist es insoweit auch ein Werk der Kultur. Der wesentliche Unterschied liegt in der Absicht, die dem Schaffen zugrunde liegt. Einmal die Absicht, etwas Zweckmäßiges zur Erleichterung des Daseinskampfes zu schaffen, zum anderen der Wunsch, einem inneren Erleben Ausdruck zu verleihen, ohne zu fragen, ob es nun vom Nutzen her gesehen zweckmäßig oder gleichgültig ist. Wir begegnen hier wieder jenen zwei Seelenfähigkeiten, von denen schon die Rede war. Die Fähigkeit der Vernunft, die die Erscheinungen erfaßt und jene andere Fähigkeit, die das Wesen der Erscheinungswelt umfaßt. Mathilde Ludendorff nennt es auch „das gottahnende Ich“ der Menschenseele.

Beide Fähigkeiten hat der Mensch, seitdem er geworden war, zur höchsten Blüte entfaltet. Er schuf die Zivilisation: Flugzeuge, Telefonapparate, Staubsauger usw., und er schuf die Kultur: Werke der Malerei, der Baukunst, Dichtkunst und Musik. Ich sprach schon davon, daß zwar alle Menschen von Natur aus die Gabe haben, das Schöne, das Gute und das Edle – mit einem Wort – das Göttliche in der Welt und im Leben wahrzunehmen, wenn sie auch noch so Unterschiedliches darunter verstehen mögen. Aber viele Menschen ersticken jene Seelenfähigkeit auch, so daß ihr Leben nur noch nach dem Zweckmäßigen, dem Nützlichen fragt, nur noch diesem zugekehrt ist. Deshalb haben nicht alle Menschen Anteil an dem eigenartigen Seelenleben, das den Menschen so grundsätzlich vom Tier unterscheidet, weil viele Menschen den Tieren gleich, nur Daseinszwecke kennen, im Gehetze des Daseinskampfes zu seelischem Erleben keine Zeit mehr finden.

Seelisches Erleben

Es geht bei diesem Erleben nicht um das Erfassen der Erscheinungswelt, also der Dinge, die uns rings umgeben, die eingeordnet sind in Zeit und Raum und in die Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung, es geht um das Wesen dieser Erscheinungswelt, um ihren inneren Gehalt, den der Mensch erleben und erkennen kann. Ich kann doch ein und dieselbe Sache mit sehr verschiedenen Augen ansehen. Denken Sie sich doch den Hinterhof von Großstadthäusern, wie sie um die Jahrhundertwende gebaut worden sind. Öde, schmutzig und trostlos. Und nun kommt ein Maler, der in einem Winkel, vom Strahl der Sonne getroffen, das Bild ausgetretener Steinstufen schaut, die zu einer schief in den Angeln hängenden morschen Tür führen. Auf den Steinstufen Kinder, wie sie ganz in diese Umgebung passen, in zerschlissenen Kleidern, wie sie spielen mit ihrer Puppe, die ebenso durstig ist wie alles andere und einem Kätzchen, das schnurrend in diese kleine, zufriedene, in ihr Spiel vertiefte Gesellschaft paßt. Und die Kinder so glücklich mit strahlenden Augen in ihrer Kinderwelt des Spiels, die so gar nichts mit der Öde der eigentlichen Umgebung zu tun hat. Beachten Sie wohl, der eine sieht die nackte Wirklichkeit, der andere sieht in ihr jene andere Welt, die wie verzaubert Schönheit und Harmonie offenbart.

Vielleicht darf ich noch ein weiteres Beispiel anführen. Sie alle kennen einen Pfau, der zur Anregung des Weibchens in der Balz das herrliche Pfauenrad zeigt. Der eine sieht dieses Pfauenrad als Ausdruck der geschlechtlichen Erregung, als Mittel, das Weibchen zu gewinnen. Der andere sieht die unerhörte Pracht, die Schönheit in der Erscheinung.

Viele Menschen sehen nur die Erscheinung und sind blind für das Wesen der Erscheinung. Sie haben die Fähigkeit sich zu versenken, einfach anzuschauen und zu erleben, in sich nicht gepflegt. Sie haben ihre Seele nicht entfaltet. Sie sehen nur die Oberfläche. Sie sind nüchterne, ernüchterte Verstandesmenschen, in denen das Gemüt nicht spricht. Der andere schaut durch die Erscheinung hindurch auf das Wesen der Erscheinung, er schaut die wundervolle Harmonie in den Erscheinungen, die er Schönheit nennt. Nun ist das Erleben des Wesens der Erscheinungen von ganz besonderer Eigenart. Sie löst den Erlebenden aus der strengen Ordnung von Raum und Zeit. Es ist ein Erleben, in dem die Zeit nicht wahrgenommen wird. Erinnern wir uns wieder der spielenden Kinder in der Sonnenecke des öden Hinterhofes der Großstadt. Wir stehen und schauen dem Spiel der Kinder zu. Vergessen wir, wenn wir die harmonische, friedliche Stimmung des Bildes in uns aufnehmen, nicht die Trostlosigkeit der Gegenwart, in der diese Kinderleben? Sind wir nicht entrückt aus dieser Ode, vergessen wir nicht die Zeit, in der wir jetzt leben? Sind wir nicht außerhalb jedes Zeitempfindens? Sind wir nicht in einem Zustand der Zeitlosigkeit? Mathilde Ludendorff spricht von einem „Erleben jenseits der Zeit“. Von einem Erleben des „Jenseits“. Sie schreibt:

Dort aber, In jenem höheren Bewußtsein, im Jenseits, erleben sie eine vollkommene Unabhängigkeit von Raum und Zeit, diese Formen des Vernunfterkennens ließen sie weit zurück! Sie vergessen den Raum und sind erhaben über jedem Wahrnehmen der Dauer!
Ob in Wirklichkeit Jahrtausende vergingen oder Augenblicke, wird nicht empfunden, aber auch von der Seele gar nicht erfragt, das Erleben weiß nichts von Dauer!

(Triumph des Unsterblichkeitwillens, S. 262)

Durch die zweite Seelenfähigkeit, durch das gotterlebende Ich, ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, das von Mathilde Ludendorff gemeinte Jenseits zu erleben. Es weckt in dem Menschen die Anteilnahme an dem Schönen, so daß er Schönheit sieht, wo andere stumpf und blind vorübereilen, wie das an dem Beispiel der spielenden Kinder klar geworden sein mag. Es weckt in dem Menschen den Wunsch, die inneren Zusammenhänge der Erscheinungswelt zu erfassen, den Wunsch sich selbst so zu geben, wie man ist, ohne Rücksicht auf das Urteil der Mitwelt, also echt, stolz, frei und unabhängig zu sein. Es weckt in dem Menschen den Wunsch, das Gute zu tun und dem Edlen zum Siege zu verhelfen.

Mathilde Ludendorff nennt diese im gottahnenden Ich der Menschenseele wohnenden Wünsche die göttlichen Wünsche. Ihr Erleben ist das, was sie Gotterleben nennt. Und eben dieses Gotterleben erhebt den Menschen über die Erscheinungswelt und führt ihn in das Jenseits von Raum, Zeit und Ursächlichkeit.

Blicken wir nun wieder zurück auf die Entwicklung. Wir hörten, daß nach der Menschwerdung eine neue Entwicklung einsetzt. Wir hörten, daß die Wissenschaftler vor allem die Entwicklung der Zivilisation sehen, daß Mathilde Ludendorff aber die Eigenart des Menschen darin sieht, daß er durch die Fähigkeit, das Wesen der Erscheinungen zu erfassen, die Entwicklung der Kultur herbeifuhrt, die ihn in immer stärkerem Maße befähigt, jenen Erlebenszustand zu verwirklichen, den sie mit den Worten: höheres Bewußtsein oder Jenseitserleben bezeichnet.

Dieses Jenseits erleben versetzt den Menschen in einen Seelenzustand, in dem er die Einordnung in die Zeit nicht mehr erlebt, also Zeitlosigkeit erlebt. Mathilde Ludendorff schreibt:

Zeitlos nannten wir das Erleben des Jenseits. Aber ist nicht Zeitlosigkeit der Gegensatz der Zeitlichkeit? Ist sie nicht in weit tieferem Sinne „Ewigkeit“ als Endlosigkeit, weil sie frei ist von dem wahrnehmen der Zeit? Und ist nicht ein Eingehen… ein bewußtes Erleben der Zeitlosigkeit ein Erleben der persönlichen Unsterblichkeit, „Ewigkeit“ genannt, in tieferem geistigem Sinne als das endlose Dasein des Einzellers?

(Triumph des Unsterblichkeitwillens, S.264)

Und in der Tat, hier liegt die Lösung der früher aufgeworfenen Frage:

Wie kann der Mensch den Widerspruch lösen zwischen dem Wissen, daß sein Leben ein naturgesetzliches Ende hat und dem auch in ihm herrschenden Willen, unsterblich zu sein?

Durch das bewußte Denken, durch die Entfaltung der Vernunft, war der Mensch zum Todwisser geworden, hatte sich ihm der Widerspruch zwischen Unsterblichkeitswillen und Todesmuß aufgetan. Durch das gotterlebende Ich hat der Mensch in der Geschichte der Kulturentwicklung die Kraft gefunden, sein Erleben mehr und mehr zu vergeistigen, diesem Erleben im Kulturwerk Ausdruck zu verleihen und Kultur zu schaffen, als Ausdruck solchen Erlebens. Dieses Erleben wird nun – weil es den Menschen erhaben sein läßt über Zeit und Raum, weil es ihn in die Zeitlosigkeit erhebt – der Erlöser seiner Unsterblichkeitssehnsucht. Denn je mehr er die Kraft der Vergeistigung gewinnt, umso mehr erkennt er, daß nicht eine endlose Dauer seines Daseins Sinn sein kann, sondern daß er teilhaben kann an einer viel sinnvolleren Ewigkeit, nämlich an der Zeitlosigkeit, an der Erhabenheit über die Zeit. So allein gewinnt er die Kraft zu seinem Schicksal, das Ende seiner Tage bewußt vor Augen zu haben, ein Todwisser zu sein und dieses Schicksal zu bejahen. Er gewinnt aber auch die Kraft, den Tod eines geliebten Menschen zu tragen, weil er weiß, daß er in Stunden des Jenseits der Zeit mit dem geliebten Verstorbenen in inniger Gemeinschaft sein kann.

Mathilde Ludendorfs schreibt:

So lange also der Überlebende die Kraft hat, in das Jenseits hinüberzugleiten, erlebt er das Zusammensein mit dem Verstorbenen, und wahrlich in einem vollkommeneren Sinn als das Erinnern an den Toten, im Diesseits.

(Triumph des Unsterblichkeitwillens, S. 268)

Die Erkenntnis, daß der Mensch durch seelische Entfaltung, durch das Erleben der in ihm angelegten Wünsche, einen Zustand der Zeitlosigkeit erfährt, und daß er durch solches Erleben seinen Unsterblichkeitswillen erlöst, diese Erkenntnis ist Mathilde Ludendorff nicht durch Nachdenken, sondern durch intuitive Einsicht geworden. Sie betont:

Nach der erlebten Intuition der Wahrheit von der Unsterblichkeit des Menschen wäre es mir nachträglich selbstverständlich eine Leichtigkeit, in dem weiteren Gedankenaufbau die Tatsachen so zusammenzustellen, als sei dies wissen nicht auf intuitivem Wege, sondern durch Vernunfterkennen geworden. Denn für jede wahre Intuition kann natürlich die Vernunft nachträglich die Stufenleiter bauen, die zu ihr hinführt. In einer Zeit aber, in der an sich die Vernunfterkenntnis so sehr überschätzt, das Erleben der Wahrheit so sehr vernachlässigt wird, wäre es ein großes Unrecht, unerwähnt zu lassen, daß die Vernunft… die Lösung des Widerspruches zwischen dem natürlichen Tod und der Vernunft nicht fand.

(Triumph des Unsterblichkeitwillens, S. 202)

Die Wissenschaft, die Vernunft, führt zur Erkenntnis der potentiellen Unsterblichkeit der Einzelligen, sie führt weiter zur Erkenntnis des Todesmuß für alle Vielzelligen, also auch zu der Erkenntnis, daß der Mensch sterben muß, daß es ein Fortleben über den Tod hinaus nicht gibt. Die Wissenschaft, d.h. die Vernunft, führt zu der Erkenntnis, daß auch im Menschen – wie in allen anderen Lebewesen – der Wille zur Unsterblichkeit mächtig ist. Deshalb führt die Vernunft auch zu der Erkenntnis des Widerspruchs zwischen Unsterblichkeitswillen und Todwissen beim Menschen.

Wie konnte dieser Widerspruch gelöst werden?

Zunächst eimal muß ich feststellen, daß die Naturwissenschaftler, die Biologen unserer Zeit, außer Adolf Portmann vielleicht, ziemlich achtlos an der Frage der potentiellen Unsterblichkeit und dem Todesmuß vorübergehen. Sie sehen das darin beschlossene Problem kaum oder überhaupt nicht. In der Evolution sehen sie zwar den Aufstieg zum bewußten Lebewesen, doch sehen sie diesen Aufstieg einzig in der Entfaltung der bewußten Denkfähigkeit beim Menschen. Sie sehen, daß der Mensch die Fähigkeit erwirbt, sich durch Sprache anderen mitzuteilen, wodurch dann die zweite Evolution, die Entwicklung der Kultur, wie sie es nennen, möglich wird. Sie sehen nicht den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier, der darin besteht, daß der Mensch neben der Fähigkeit des Denkens noch die andere Seelenfähigkeit besitzt, das Wesen der Erscheinungswelt, das Göttliche wahrzunehmen und durch das Erleben der göttlichen Wünsche zu erkennen. Sie können deshalb auch nicht unterscheiden zwischen Zivilisation und Kultur. Mathilde Ludendorff hat von vornherein – wahrscheinlich auch, weil sie als Frau den Kräften des Gemütes mehr verbunden ist als der Mann – ein starkes Gespür für die anderen Seelenkräfte, die neben dem Denkvermögen noch in der Menschenseele angelegt sind, entwickelt. Sie vertraut diesen Kräften und nimmt ihre Äußerung mit großer Aufmerksamkeit auf. Sie forscht deshalb auch nach der Antwort auf die Frage: Wie die Menschen im Laufe der Menschheitsentwicklung den Widerspruch zwischen Unsterblichkeitswillen und Todesmuß zu lösen versucht haben.

In seinen Mythen hat der Mensch der Frühzeit seine Lösungsversuche niedergelegt. Deshalb betrachtet Mathilde Ludendorff die in den Mythen gegebene Antwort. Sie schreibt:

Erst ein Versenken in alle die Mythen der Völker und ein Versenken in das eigene Erleben der Seele weckte die ganzen Zusammenhänge…

(Triumph des Unsterblichkeitwillens, S. 202)

Unter diesen Mythen ist der Mythos von einem „ewigen Leben“ der vertrauteste. Er lehrt, daß manche Menschen, die in ihrem Leben die Voraussetzung dafür durch ihr eigenes Verhallen erfüllen, an dem „ewigen Leben“ teilhaben. Sollte dieser Mythos Wahrheit enthalten? Sollten einzelne Menschen der Vergangenheit in ihrem Leben diese Voraussetzung für ein „ewiges Leben“ erfüllt und dadurch an der „Ewigkeit“ Anteil genommen haben? Sollte ein Mensch, der neben den Kräften der Vernunft das Erleben der Gottkräfte entfaltet hat, nicht jenen Zustand der Zeitlosigkeit erlebt und damit Anteil an der „Ewigkeit“ gehabt haben? Sollte nicht die Evolution nach dem Verlust der potentiellen Unsterblichkeit ein Wesen erstrebt haben, das – dank seiner eigenen seelischen Entfaltung – sich selbst die „Unsterblichkeit“ in einem viel höheren geistigen Sinne wieder erringt? Sollte nicht überhaupt in dem Erreichen dieses Zieles der Sinn der Evolution und der Sinn des Menschenlebens verwirklicht sein? Ist das Erleben dieser Kräfte – das Hinaustreten des Menschen über die Erscheinungen in das Wesen der Erscheinungen – nicht der von allen wachen Menschen erstrebte Einklang mit Gott? Ist in diesem Sinne dem Menschen nicht die Möglichkeit gegeben, das Wesen der Erscheinungswelt, das wir Gott nennen, in seiner Seele bewußt zu erleben, also Bewußtsein Gottes zu sein? Und ist der Mensch in diesem Sinne nicht das Lebewesen, das durch eigene, schöpferische Entfaltung seiner Seelenkräfte dieses Entwicklungsziel durch sein Leben und durch seine Lebensgestaltung erst verwirklicht? Ist er in diesem Sinne nicht Vollender der Schöpfung?

So fällt es der sinnenden Seele wie Schuppen von den Augen. Das Weltall, in dem wir leben, ist geworden; in ihm unser Sonnensystem und mit ihm unsere Erde. Aus kleinsten Anfängen ist auf unserer Erde Leben geworden, erste einzellige Lebewesen, die zwar sterben können, aber nicht sterben müssen! Erst mit der Entwicklung der vielzelligen Lebewesen ist der Tod – der natürliche Tod – in dieses Weltall eingetreten. Er treibt die Entwicklung mit Hilfe des Unsterblichkeitwillens voran, bis die Höherentwicklung der Lebewesen den Menschen werden läßt. Der Mensch vermag durch seine Vernunft die Erscheinungswelt in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erkennen und die Werke der Zivilisation zu schaffen, aber in ihm erwachen die Kräfte des gotterlebenden Ichs und führen ihn zum Erahnen des Wesens der Erscheinungen, zum Gottahnen und Gotterleben. Aus dieser Fähigkeit baut der Mensch das Werk der Kultur auf, schafft einen immer höheren Grad der Vergeistigung und gewinnt die Möglichkeit, in einem Zustand des Jenseits von Raum und Zeit, den Gottgehalt der Natur und des Kulturschaffens zu erleben. Er erlebt in diesem Zustand Zeitlosigkeit, Ewigkeit und erlöst durch solches Erleben seine Unsterblichkeitssehnsucht. Der Wille zur Unsterblichkeit, der die Entwicklung Vorantrieb, findet in solchem Erleben seine Erfüllung. So erringt der Mensch, der seine Seele im Sinne der Gottkräfte entfaltet, in vergeistigter Form die potentielle Unsterblichkeit, die den Einzeller auszeichnete, und erfüllt damit das Schöpfungsziel.

Dr. W. P.

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Mit freundlicher Genehmigung von „Die Deutsche Volkshochschule“