Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens

Wie alle Schriften, so dient auch diese als Anregung sich selbst mit den Werken Mathilde Ludendorffs zu beschäftigen.

TEIL 1

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Vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens

Dieser Aufsatz handelt vom Sinn des Lebens und vom Sinn des Sterbens, denn beides, Leben und Sterben, ist eine unlösbare Einheit. Die meisten Menschen machen sich über das Sterben keine Gedanken. Es ist, als gingen sie dieser Tatsächlichkeit möglichst aus dem Wege. Nur wenn in ihrem Verwandten- oder Freundeskreis ein lieber Mensch die Augen schließt, stehen sie dieser Tatsächlichkeit oft ratlos oder gar fassungslos gegenüber. Wenn die meisten Menschen dem Gedanken an das Sterben möglichst aus dem Wege gehen, so deshalb, weil sie vor einem Rätsel stehen, das sie nicht lösen können. In ihrer Kindheit hat man ihnen erzählt, daß das Sterben ja nur ein Übergang sei zu einem neuen und eigentlich viel bedeutungsvolleren Leben nach dem Tode. In Wahrheit sei es nur ein Übergang in einen anderen Zustand des Lebens. Sehr viele kennen diese Anschauungen, weil sie in ihnen groß geworden sind.

Aber in Wirklichkeit sind nur wenige Menschen mit dieser Lehre von einem ewigen Leben nach dem Tode ganz zufrieden. Irgendwann und irgendwie regt sich der Zweifel, die Unsicherheit. Man mag es nicht recht glauben, was da gelehrt wird. Und deshalb wollen wir heute ein wenig über diese Dinge Nachdenken und versuchen, das Leben und das Sterben in seinem Zusammenhang zu erfassen und möglichst auch einen Sinn in diesem Zusammenhang zu sehen.

Rückblick auf die Entwicklung des Lebens

Schauen wir einmal um etwa 13 Milliarden Jahre zurück. Das ist eine Zeit, die sich keiner von uns vorstellen kann, es sind 13 mal 1000 Millionen Jahre! Die Wissenschaft nimmt an, daß vor so langer Zeit unser Weltall geworden ist, unser unermeßliches Weltall! Unsere Sonne mit all ihren Planeten ist erst später in diesem Weltall entstanden. Unsere Erde ist einer der kleinsten Planeten unseres Sonnensystems. Auch sie ist vor unvorstellbarer Zeit einmal geworden.

Wahrscheinlich war sie zuerst ein feurig-flüssiger Tropfen, der in dem unermeßlichen Kosmos um die Sonne herumsegelte. Der feurig-flüssige Tropfen erkaltete, er bekam eine dünne feste Haut und später eine dünne Lufthülle. Auf der dünnen festen Haut schlugen sich Wassertropfen nieder, wie sie sich an unseren Fensterscheiben bilden, wenn es draußen kalt und drinnen warm ist. Im Laufe von vielen Millionen Jahren entstanden auf unserem Erdball Wasserpfützen, erste flache Meeresflächen, deren heißes Wasser zunächst verdampfte, bis es allmählich abkühlte, so daß sich in den flachen Meeren erstes Leben entwickeln konnte.

Erste kleine Lebewesen entstanden in den Meeren, so klein, daß kein Auge sie hätte sehen können. Aber denken Sie, daß diese Lebewesen, die vor drei oder vier Milliarden Jahren auf unserer Erde entstanden, auch heute noch leben! Es sind einfachste Lebewesen, die wir heute unter dem Mikroskop beobachten können. Über viele Jahre hin haben die Naturwissenschaftler diese Lebewesen studiert. Heute wissen wir, daß von ihnen alle anderen Lebewesen, ja, daß von ihnen auch der Mensch abstammt. Heute wissen wir auch, daß alle Lebewesen unserer Erde sich in der Zeit von drei bis vier Milliarden Jahren entwickelt haben, daß alle untereinander verwandt sind, und daß sie alle letztlich von jenen ersten kleinen Wesen abstammen, die wir Einzeller nennen, weil sie nur aus einer einzigen Zelle, aus einem einzigen kleinen Schleimklümpchen bestehen. Auch wir Menschen stammen von diesen einzelligen Wesen ab: Es sind unsere Urahnen!

In der langen Zeit von etwa vier Milliarden Jahren hat sich also alles Leben aus einfachsten Anfängen heraus entwickelt. Zunächst gab es nur Tiere, die im Wasser lebten. Unter ihnen entwickelten sich die ersten Wirbeltiere, die Fische. In späteren Zeiten entstanden Tiere, die im Wasser und auch schon auf dem Lande leben konnten. Danach die Wirbeltiere, die sich in die Luft erheben konnten, die Vögel, und noch später die Säugetiere in all ihren mannigfaltigen Ausprägungen und zum Ende entstanden, ihrem Körperbau entsprechend, die höchsten Säugetiere: Die Menschen. Alle Lebewesen unserer Erde sind miteinander verwandt, und die Gesetze des Lebens haben für alle – ohne Ausnahme – die gleiche Gültigkeit.

Wenn wir nun die Reihe der Tierwelt betrachten, wie sie sich nach und nach entwickelt hat, so stellen wir einen Aufstieg fest zu immer besserer Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen. Es ist doch offenbar, daß z.B. ein Pferd eine sehr viel ausgeprägtere Fähigkeit hat, die Welt wahrzunehmen als etwa eine Schnecke oder ein Regenwurm. In dieser Weise ist also ein Aufstieg festzustellen. Die höchstentwickelten Tiere können in gewisser Hinsicht schon denken, zumal wenn sie in der Gesellschaft der Menschen leben. Aber wir Menschen haben in besonderer Weise ein bewußtes Seelenleben entwickelt. Wir haben deshalb die Fähigkeit, unsere Welt zu verändern, zu gestalten, Erfindungen und Entdeckungen zu machen und mit ihrer Hilfe die wunderbare Welt unserer Zivilisation (mit Flugzeug, Waschmaschine und Fernsehen z.B.) aufzubauen.

Menschliche Einsicht in das Sterbenmüssen

Eine besondere Frage dieses Aufstiegs zum bewußten Seelenleben liegt nun darin, daß der Mensch in ganz anderem Maße als jedes Tier Ursache und Wirkung begreifen kann. Die Kuh kann zwar auch begreifen, daß die automatische Tränkanlage Wasser gibt, wenn sie mit dem Maul gegen den Wasserhebel stößt, aber kein Tier kann etwa vorhersehen, daß man im Herbst ernten kann, wenn im Frühjahr das Saatgut in die Erde gebracht wurde. Nur der Mensch kann in diesem Sinne das Zukünftige vorhersehen, ja, vorherplanen und vorherberechnen. Und weil der Mensch diese Fähigkeit hat, kann er zwar all die Erfindungen und Entdeckungen machen, die ihn seine Zivilisation aufbauen ließen, aber er kann nun auch voraussehen, daß sein Leben zwangsläufig eines Tages zu Ende sein wird. Kein Tier kann wissen und begreifen, daß es naturnotwendigerweise sterben muß. Der Mensch aber weiß um seinen Tod. Er kennt das Gesetz des Sterbens. Jeder von uns weiß, daß er einmal sterben muß. Das ist der Grund, weshalb einzelne Menschen zu allen Zeiten über den Tod nachgedacht haben; und auch über die Frage: Was hat ein Leben für einen Sinn, wenn es doch eines Tages zu Ende geht?

Sie sehen, wie auf diese Weise die Frage nach dem Lebenssinn mit der Frage nach dem Sterben zusammenhängt.

Zu allen Zeiten haben also Menschen versucht, mit dieser Frage fertig zu werden, Antwort zu finden, denn keiner kann dem Todesmuß entfliehen! Zunächst einmal haben die Menschen – solange sie noch keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen hatten – geglaubt, daß nur der Leib dem Tod unterworfen sei, daß aber die Seele unsterblich in einem „Jenseits“ weiterlebe. Sie glaubten an die Unsterblichkeit der Seele, an ein „Jenseits“, an einen anderen Aufenthaltsort der Gestorbenen. Sie lehrten dementsprechend ein künftiges Wiedersehen mit dem Verstorbenen.

Die Naturwissenschaften haben diesen Glauben – der auch heute noch zum Grunddogma der christlichen Lehre gehört – immer gründlicher und zwingender widerlegt. Immer eindringlicher wurde nachgewiesen, daß die Lehre von der Zweiheit von Leib und Seele Irrtum ist, daß Leib und Seele eine untrennbare Einheit darstellen!

Schon bei niederen Tieren werden seelische Fähigkeiten nachgewiesen, und die hochentwickelten Säugetiere zeigen fast alle seelischen Fähigkeiten des Wahrnehmens und des Denkens, die der Mensch auch hat. Der Unterschied liegt darin, daß der Mensch diese Fähigkeiten nicht wie das Tier nur unterbewußt erlebt, sondern daß er über ein bewußtes Seelenleben verfügt. Wir hatten uns klar gemacht, daß diese höheren Seelenfähigkeiten der Menschen eben zu dem Begreifen des unentrinnbaren Todes geführt haben. Aber wie die Seelenfähigkeiten des Tieres an die Funktionen des Gehirns gebunden sind, so sind sie es natürlich auch beim Menschen. Jeder weiß, daß eine Gehirnverletzung zu schwersten seelischen Störungen führt. Das Gehirn ist aber – wie der übrige Körper – auch dem Tode ganz und gar verfallen. Deshalb ist das Weiterbestehen einer Seele – über den Tod hinaus – eine völlige Unmöglichkeit! Ein Fortleben nach dem Tode gibt es nicht!

Seelische Verschiedenheiten der Menschen

Nun ist die Art und Weise, wie Menschen sich mit dem Todesmuß abfinden, sehr verschieden. Ich sagte schon, daß die meisten an diese Schicksalsfrage erst denken, wenn sie mit dieser Tatsache in unmittelbare Berührung kommen, wenn wieder einmal in ihrer Umgebung ein Mensch für immer die Augen schloß. Allzu gern möchten sie sich dann zu dem Glauben an ein Wiedersehen im Jenseits flüchten, und viele finden nicht die Kraft, sich einzugestehen, daß es ein solches Wiedersehen nicht geben kann. Dann wähnen sie sich lieber in dem märchenhaften Glauben eines Wiedersehens, wie sie ihn als Kind angenommen haben, bis eines Tages sie selbst vor dem Ende ihrer Tage stehen.

Es gibt Menschen, die leben in der Angst vor dem Tode, sie leiden entsetzlich, wenn sie spüren, daß die letzte Stunde kommt. Es gibt aber auch Menschen, die in vollem Bewußtsein diese letzten Stunden leben und in Ruhe und Gelassenheit die Augen schließen und wissen, daß sie sie nicht noch einmal öffnen werden. Es gibt Menschen, die in äußerster Unruhe sich gegen das letzte Einschlafen aufbäumen, die in Angst sich gegen dieses letzte Einschlafen zu wehren versuchen. Sie haben einen schweren Todeskampf, wie wir sagen. Aber es gibt Menschen, die in voller Zufriedenheit und dabei im vollen Bewußtsein einschlafen – zur ewigen Ruhe.

Wie mag es kommen, daß wir hier so große Unterschiede erleben können? Diese Frage weist uns auf die große Unterschiedlichkeit, die unter den Menschen besteht, hin. Wir wissen, die Menschen sind verschieden in ihrer Wesensart, in ihrer Begabung, aber auch verschieden in ihrer seelischen Entfaltung. Versuchen wir, uns die letztgenannte Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen klarzumachen.

Sie wissen, daß es oft unmöglich ist, einen anderen für die Fragen zu interessieren, die Sie gerade für wichtig halten. Jeder von Ihnen hat erfahren, daß andere Menschen – ja, Menschen seiner nächsten Umgebung – für Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Sinn des Sterbens überhaupt nicht ansprechbar sind, daß sie sich um solche Fragen überhaupt nicht kümmern, daß sie in dieser Hinsicht gleichgültig in den Tag hineinleben. Andererseits sind diese anderen Menschen mit Fragen beschäftigt, die nun wieder von Ihnen als unbedeutend und nebensächlich angesehen werden. Da sind vielleicht Männer, die am Sonntagvormittag an der Theke im Wirtshaus sitzen, ihr Bierchen trinken, ihre Zigaretten rauchen und über die alltäglichsten Dinge der Welt reden. Da sind vielleicht Frauen, die genau studieren, wie der Lidstrich am Auge gezogen werden muß und mit welcher Farbe ihre Augenlider bestäubt werden müssen, weil gerade dieser Farbton heute modern ist und zu diesem oder jenem Kleid oder Pullover paßt. Sie sehen, welch große Unterschiede hier zwischen den Menschen bestehen. Diese Unterschiede hängen davon ab, was der Mensch für wichtig und wesentlich hält und was nicht.

Große Übereinstimmung besteht zweifellos darin, daß jeder von uns es für wichtig hält, daß er das Lebensnotwendige beschafft, d.h. daß er in der Lage ist, für sich und seine Familie das zu schaffen und zu beschaffen, was für die Lebenserhaltung notwendig ist. Aber schon hier zeigen sich die großen Unterschiede; denn der eine hält für lebensnotwendig, was der andere für durchaus überflüssig erachtet, der eine hält das Auto, der andere den Fernseher für lebensnotwendig – und was es sonst für zahllose Bedürfnisse gibt. Ein anderer mag viele dieser Dinge für angenehm und für erstrebenswert halten, aber keineswegs für lebensnotwendig, d.h. er könnte und würde auf diese Dinge verzichten, wenn er aus einem wichtigen Grund auf ihre Anschaffung verzichten müßte. Andererseits mag es sein, daß ein Zigarettenraucher seine Zigaretten für lebensnotwendig hält, der Alkoholiker seinen Schnaps. Dinge, die ein anderer als höchst gesundheitsschädlich betrachtet.

Wer nur ein wenig darüber nachdenkt, wird also leicht erkennen, wie unterschiedlich die Menschen sind, wie unterschiedlich sie die vielen Dinge des Lebens bewerten, so unterschiedlich, daß der eine etwas für verdammenswert hält, was der andere für höchst wünschenswert erachtet. Und wir fragen:

Woher kommt diese oft gegensätzliche Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen?

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Autor: Dr. W. P.

Mit freundlicher Genehmigung von „Die Deutsche Volkshochschule“